Ein Machtwort des Bundesverfassungsgerichts – Meinungsfreiheit vs. Persönlichkeitsrecht: Das Internet ist (doch) kein rechtsfreier Raum!
31. März 2022 | Prozessführung, Urheber- und Medienrecht
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat in einem jüngst veröffentlichten Beschluss vom 19.12.2021 (1 BvR 1073/20) eine viel diskutierte Entscheidung des Kammergerichts Berlin aus dem Jahr 2020 aufgehoben und damit auch die Vorinstanz deutlich kritisiert sowie dem in Berlin angewandten Entscheidungsmaßstab eine klare Absage erteilt. Das Kammergericht hatte – wie auch bereits das Landgericht Berlin – zuvor massive Beschimpfungen und Verbalinjurien gegen die Politikerin Renate Künast als nicht strafbare Beleidigung eingestuft. Der Beschluss des BVerfG dürfte bei Auskunftsansprüchen gegenüber Social-Media-Plattformen weitreichende Auswirkungen haben, was auch die aktuelle Entscheidung des Oberlandesgerichts Schleswig-Holstein vom 23.03.2022 (9 Wx 23/21) bestätigt.
Entscheidungen der Vorinstanzen
Renate Künast hatte Facebook klageweise zur Herausgabe von Bestandsdaten der beteiligten Nutzer aufgefordert, um diese identifizieren und in einem Folgeprozess verklagen zu können. Das Landgericht Berlin hat sodann im September 2019 entschieden, dass die Beschimpfungen der Politikerin Renate Künast in Form von Kommentaren auf der Social-Media-Plattform Facebook – wie z.B. „Pädophilen-Trulla“, „Gehirn Amputiert“, „Sie wollte auch mal die hellste Kerze sein, Pädodreck“ oder „kranke Frau“ – bei rechtlicher Bewertung hinzunehmen wären.
Das Kammergericht Berlin als Berufungsinstanz bewertete im Ergebnis ebenfalls noch zahlreiche Aussagen (z.B. „Pädophilen-Trulla“, „kranke Frau“ oder „Gehirn Amputiert“) als nicht strafbar und hat in diesem Zusammenhang auch eine sog. Schmähkritik, bei der jeder sachliche Zusammenhang fehlt, verneint. Die Berliner Richter hatten die getätigten Äußerungen vielmehr als zulässigen „öffentlichen Meinungskampf“ eingestuft, der ausreichend Bezug zur Sachdebatte aufweisen würde. Die Beschimpfungen seien zwar „ungehörig“, „überzogen“, „respekt- und distanzlos“, hätten aber noch einen hinreichenden Bezug zu einer „Sachauseinandersetzung“. Da die angegriffenen Aussagen nach Ansicht des Kammergerichts noch von der Meinungsäußerungsfreiheit gemäß Art. 5 Grundgesetz gedeckt wären, lehnte das Kammergericht die begehrte Auskunft bzw. eine Herausgabe der Nutzerdaten durch Facebook ab.
Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht
Das BVerfG stellte nun klar, dass (auch) die Entscheidung des Kammergerichts Berlin die „Bedeutung und Tragweite des Persönlichkeitsrechts“ verkannt habe und das Persönlichkeitsrecht von Renate Künast aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz verletzt sei. Das Kammergericht habe keine ausreichende Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit und dem Persönlichkeitsrecht durchgeführt. Eine solche Abwägung sei nur ausnahmsweise dann entbehrlich, wenn es sich um eine Schmähkritik, Formalbeleidigungen oder einen Angriff auf die Menschenwürde handelt. Das BVerfG hat in seiner Entscheidung auch betont, dass Personen des öffentlichen Lebens sich grundsätzlich „mehr“ gefallen lassen müssten. Dieser Umstand könne jedoch nicht jede persönliche Beschimpfung von Politikern und Amtsträgern rechtfertigen. Auch Personen des öffentlichen Lebens seien bei einer öffentlichen Verächtlichmachung oder Hetze durch die Verfassung geschützt. Insbesondere in Fällen, in denen die Äußerungen auf Social-Media-Plattformen stattfänden und das öffentliche Interesse betroffen ist, könne der Schutz des Persönlichkeitsrechts überwiegen.
Bedeutung und Tragweite des Persönlichkeitsrechts gestärkt
Das BVerfG hat die Bedeutung und Tragweite des Persönlichkeitsrechts ausdrücklich hervorgehoben und den Blick insbesondere des Kammergerichts Berlin noch einmal dafür geschärft, die streitgegenständlichen Äußerungen einer umfassenden Abwägung der betroffenen Rechtsgüter zu unterziehen. Durch die Aufhebung der Entscheidung hat sich das Kammergericht Berlin nochmals mit der Frage bestehender Auskunftsansprüche zu befassen, da das BVerfG selbst ausschließlich Grundrechtsverletzungen und keine zivilrechtlichen Ansprüche prüft. Die Verfassungsrichter haben allerdings unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass ein Auskunftsanspruch von Renate Künast gegen Facebook nach der gebotenen Abwägung der betroffenen Rechtsgüter besteht und die Äußerungen nicht mehr von der Meinungsfreiheit gedeckt sind.
Wenngleich die gelebte Praxis auf Social-Media-Plattformen teilweise (leider) einen anderen Eindruck erwecken sollte, gilt die Meinungsfreiheit auch im digitalen Korridor nicht grenzenlos. Die Entscheidung aus Karlsruhe dürfte jedenfalls dazu beitragen, dass die Geltendmachung von Auskunftsansprüchen gegenüber Social-Media- bzw. Internetplattformen nicht generell der Meinungsfreiheit zum Opfer fällt und Schutzinteressen bei Verbalinjurien auf Social-Media-Plattformen gerichtlich durchsetzbar bleiben. Ob Dienstanbieter zur Auskunft verpflichtet sind, ist im Einzelfall unter der dargestellten Abwägung der Interessen zu beurteilen.
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