EuGH sieht Pflicht zur systematischen Arbeitszeiterfassung
21. Mai 2019 | Arbeitsrecht
Noch kurz vor der Europawahl verbreitet nun der EuGH in der Rechtssache C-55/18 einen weiteren „Bürokratiemonster-Schreck“, für den die EU (wenn auch zum Teil unberechtigt) bekannt ist. Nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes müssen die Mitgliedstaaten nun die Arbeitgeber verpflichten, nicht nur die Überstunden zu dokumentieren, sondern die Arbeitszeiten der Mitarbeiter grundsätzlich systematisch, objektiv und verlässlich zu erfassen. Doch so viel Neues bringt das Urteil bei näherer Betrachtung gar nicht.
Spanisches Ausgangsverfahren mit vergleichbarer Rechtslage
Anlass für diese Entscheidung bot ein spanisches Vorabentscheidungsverfahren zur Prüfung der Frage, ob eine Arbeitszeiterfassung, die lediglich die Überstunden dokumentiert, ausreicht, um den Anforderungen der Arbeitszeitrichtlinie und der Grundrechtecharta gerecht zu werden. Ähnlich wie in Deutschland auch, sind spanische Arbeitgeber bislang nur verpflichtet, die Überstunden ihrer Mitarbeiter zu dokumentieren, nicht aber die generelle tägliche Arbeitszeit. So tat es auch die Deutsche Bank, die daraufhin von einer spanischen Gewerkschaft verklagt wurde.
EuGH: Gesundheitsschutz und Sicherheit der Arbeitnehmer erfordern Erfassung der täglichen Arbeitszeit
Auf Linie der Gewerkschaft urteilte nun der EuGH, dass eine wirksame Umsetzung der Arbeitszeitrichtlinie (und auch Einhaltung der Grundrechte) erfordere, dass die tägliche Arbeitszeit jedes Mitarbeiters systematisch erfasst werde. Nur so könne der ohnehin im Arbeitsverhältnis unterlegene Arbeitnehmer seine Rechte effektiv wahrnehmen und durchsetzen. Nur so könne der mit den europäischen Vorgaben beabsichtigte Gesundheitsschutz und die Sicherheit der Arbeitnehmer gewährleistet werden.
Vorgaben der Arbeitszeitrichtlinie (2003/88/EG)
Tatsächlich sieht die Arbeitszeitrichtlinie in ihrem Art. 22 Abs. 1 ausdrücklich lediglich vor, dass Arbeitgeber Listen für alle Mitarbeiter führen, die Überstunden leisten. In diesem Sinne haben verschiedene Mitgliedstaaten wie u.a. Spanien, aber auch Deutschland (§ 16 Abs. 2 ArbZG), diese Vorgabe umgesetzt. Nun füllt der EuGH diese Rechtsetzung weiter aus und verlangt, dass die tägliche Arbeitszeit grundsätzlich systematisch erfasst werden muss. Dabei überzeugt das Argument, dass eine Einhaltung der wöchentlichen Höchstarbeitszeit von 48 Stunden einschließlich Überstunden ohne eine vollumfassende Aufzeichnung nicht möglich sei, viel weniger als das weitere Argument der Kontrolle der vorgesehenen Mindestruhezeiten von regelmäßig 11 Stunden (§ 5 Abs. 1 ArbZG). In der Tat dürfte es Arbeitgebern schwerfallen, die Einhaltung der Ruhezeiten nachzuweisen, wenn Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit nicht erfasst sind.
Bereits heute schon erforderlich – nationale Vorgaben im Rahmen der Verhältnismäßigkeit
Letztlich klingt das Urteil des EuGH zur Arbeitszeiterfassung zunächst nach einer einschneidenden Änderung. Allerdings gibt es in Deutschland für verschiedene Berufsgruppen bzw. Arbeitszeitformen wie Mini-Jobber oder in typischen Schwarzarbeitsbranchen schon spätestens seit der Einführung des Mindestlohngesetzes die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung (§ 17 MiLoG). Zum Nachweis der Einhaltung der Vorgaben des Mindestlohngesetzes tun Arbeitgeber ohnehin gut daran, wenn sie die Arbeitszeiten ihrer Mitarbeiter dokumentieren. Im Übrigen entspricht die jetzige Auslegung durch den EuGH bereits der geübten Praxis vieler kommunaler Gewerbeaufsichtsämter.
Soweit nun vorschnell das Ende der Vertrauensarbeitszeit oder motivierter und sich mit dem Unternehmen identifizierenden Mitarbeiter insbesondere in der Gründerszene ausgerufen wird, bleibt zunächst doch abzuwarten, was der deutsche Gesetzgeber aus den Vorgaben des EuGH tatsächlich machen wird. Schon im Sinne der Verhältnismäßigkeit dürfte kein Unternehmen zur Einführung aufwendiger Zeiterfassungssysteme verpflichtet werden, wenn auch die manuelle Erfassung systematisch erfolgt. Ausnahmen für Sonderkonstellationen existieren auch schon heute in Bereichen, in denen die Arbeitszeit aufgrund besonderer Merkmale der Tätigkeit nicht gemessen oder im Voraus festgelegt werden kann bzw. von den Arbeitnehmern selbst festgelegt wird.
Bis dahin obliegt es nun den Gerichten, im Sinne der EuGH-Entscheidung das Arbeitszeitgesetz auszulegen. Den Arbeitgebern kann nur empfohlen werden, sich mit der vorstehenden Thematik wieder einmal mehr zu beschäftigen.